Geister und Moderne. Unsichtbare Wesen bei Bruno Latour
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Von Geistern und Modernen
Anthropology, more than any other scholarly discourse on magic, was responsible for the interpretation of magic as an antithesis of modernity and for the production of the peculiar ambiguity and entanglement of magic and modernity […]. (Pels 2003:5)
„Magic in the moonlight“ (2014) von Woody Allen handelt von einer romantischen Beziehung zwischen einer von Geistern überzeugten Hellseherin und einem von seinen eigenen Tricks desillusionierten Magier in den 1920er Jahren. Eine Geschichte, die sich um den klassischen Streit von Rationalismus vs. Irrationalismus als Einstellung gegenüber dem Leben dreht, am Ende jedoch jeden Zweifel, dass es vielleicht mehr gäbe, „als das Auge sehen kann“, zunichte macht. Allen sagt über den Magier: „Yes, he is like a character in an Ingmar Bergman film, who wants to believe but can’t because his common sense, his intelligence, his logic and rationality tell him clearly: what you see is what you get“ (Timeout 2014). Allens Magier – ein Mann der Moderne?
Die vorliegende Arbeit widmet sich den „invisible beings“ – „all these beings whose elaboration forms an essential and hair-raisingly complex part of ethnographic research“ (Latour 2013a:184). Schlägt man das Thema ‚Magie‘ in einem jüngeren deutschen Nachschlagewerk zur Einführung in die Ethnologie nach, erfährt man, dass es dort unter dem Thema Religion abgehandelt und besonders an Glaubensvorstellungen im außereuropäischen Raum geknüpft wird, die der Vergangenheit angehören (Vgl. Haller 2005: 255f.). Illustrierende Beispiele betrachten die Themen ‚Voodoo‘ und ‚Hexerei‘ bei den Azande oder den Trobriandern. Die dort vorgegebene Definition jedoch besagt: „Magie wird in allen bekannten Kulturen in irgendeiner Form ausgeübt und steht oft zeitgleich neben Wissenschaft und Religion“ (ebd., eig. Hervorhebung). Ähnlich verhält es sich mit dem Abschnitt zu Geistern, die unter „Übernatürliche Kräfte und Wesen“ besprochen und von einem Beispiel zu Japan begleitet werden (ebd.:241).
2013 veröffentlichte Bruno Latour sein neuestes Buch „An inquiry into modes of existence. An anthropology of the moderns“ (kurz AIME). Es wird als Fortsetzung vieler seiner vorhergehender Arbeiten zu den Menschen der Moderne gesehen (Vgl. Delchambre/Marquis 2013:564), von denen er behauptet, „nie modern gewesen“ zu sein (Vgl. Latour 2008). AIME möchte dagegen darlegen und zum Nachforschen dessen anregen, „what the moderns actually do and what they really care about“ (Delchambre/Marquis 2013:564). Das siebte Kapitel „Reinstituting the beings of metamorphosis“ ist ihrem Umgang mit „unsichtbaren Wesen“ gewidmet, und bietet damit eine seltene anthropologische Perspektive auf übernatürliche Phänomene im Bereich des Eigenen – entgegen dem sonst üblichen Blick auf ‚die Anderen‘.
Das oben stehende Zitat Pels’ und der Eindruck aus dem Einführungswerk verdeutlichen, dass Magie in der vergangenen Betrachtungsweise in der Ethnologie in der modernen Welt ihren Platz verloren hatte und im „Anderswo“ verortet wurde. Wie die vorliegende Arbeit zeigen will, wird mit Latours Ansatz
hingegen versucht, eine Dichotomie zwischen modernen und nicht-modernen Welten aufzuheben. Dies stellt eine Wiederbelebung bereits vorhanden gewesener Ansätze dar (siehe bspw. Herder 1995), die jedoch in den Strömungen der vergangenen Jahrzehnte außer Mode geraten waren und somit wieder in den Vordergrund gerückt werden.
Diese Wende soll in der vorliegenden Arbeit nachvollzogen werden. Zunächst wird eine Übersicht über die Erforschung übernatürlicher Phänomene in der Ethnologie in historischer Perspektive geschildert. Daran anschließend wird das siebte Kapitel Latours’ in „An Inquiry into modes of existence“ und seine Betrachtungsweise zu Geistern vorgestellt. Abschließend werden Latours Ansätze wissenschaftsgeschichtlich eingeordnet und interpretiert.
Grundlage zur Frage nach dem Verhältnis von Magie und Moderne liefert die Einführung Peter Pels’ zu „Magic and Modernity. Interfaces of revelation and concealment“ (Meyer/Pels 2003). Auch wenn es in dieser Arbeit in erster Linie um ‚Geister‘ gehen soll, werden sie im Sinne übernatürlicher Phänomene mit
dem Thema Magie gemeinsam betrachtet, wie es auch anderswo getan wird (siehe dazu Buse/Spott 1999, Moore/Sanders 2001, Pelz 2003 etc.). Es finden sich eine Vielzahl an Ethnographien, dagegen aber insgesamt nur wenige Übersichtswerke, die sich dem Thema Geisterforschung in den Sozialwissenschaften systematisch annehmen. Eine Ausnahme dazu stellt Buse und Spotts 1999 erschienener Sammelband „Ghosts: Deconstruction, Psychoanalysis, History“ dar. Seit den 2000er Jahren hat das wissenschaftliche Interesse an dem Thema Magie und Moderne beachtlich zugenommen (siehe dazu bspw. Greenwood 2000, 2009, Freytag/Sawicki 2006, Tambiah 2000 etc.), „which is largely due to its use as an analytical category to elucidate a wide variety of processes and practices to do with modernity“ (Greenwood 2009:2), wie wir im Folgenden sehen werden.
Das Okkulte in der Geschichte der Ethnologie
Wie Peter Pels in der Einleitung zu „Magic and Modernity“ (2002) darlegt, ist der Umgang der Ethnologie mit Magie durch die Geschichte hinweg (d.h. seit Mitte des 19. Jahrhunderts) von einem ständigen Hin und Her zwischen Ablehnung und Anerkennung des Okkulten geprägt, das sich im Kern als ein Pendeln entlang der Zwischentöne von Romantisierung und Rationalisierung verwirklichte. Da die Ethnologie in etwa zur Zeit der Aufklärung in Europa als wissenschaftliche Disziplin entstand, kann ihre Haltung zur Magie jeweils als Reaktion auf den zunehmend auf Vernunft ausgerichteten Zeitgeist gesehen werden.
So bildeten Diderot und Herder mit der Abhandlung zu schamanistischen Praktiken und Glauben einen romantischen Kontrastpunkt zum aufklärerischen Verwerfen alles zum irrational Erklärten. Taylor und Frazor, im Kontext des Evolutionismus des menschlichen Intellekts, lehnten sich gegenüber dem Positivismus in der Wissenschaft Mitte des 19. Jahrhunderts auf. Dagegen kamen Rationalismus und Entzauberung in den 1930ern und 1950ern mit funktionalistischen und modernistischen Ansätzen gegenüber der Beschäftigung mit Hexenglauben zum Vorschein. Schließlich nennt Pels das Aufkommen der kritischen Ethnologie, die sich dem klassischen Entwicklungs- und Globalisierungsdenken und der daraus resultierenden „Peinlichkeit“ ethnozentrischer Kategorien von Magie und Hexerei in den 1970ern entledigen wollte, und stattdessen nach Alternativen zur Modernisierung suchte (Vgl. Pels 2002:17). Diesen Trend verdeutlicht der Klappentext der 1995er Suhrkamp-Ausgabe des 1987 erschienenen Sammelbandes „Magie. Die sozialwissenschaftliche Kontroverse über das Verstehen fremden Denkens“, in dem die Herausgeber Kippenberg und Luchesi den Umbruch in der ethnologischen Herangehensweise folgendermaßen beschreiben:
Bis zum Beginn der seit Anfang der sechziger Jahre in der angelsächsischen Ethnologie geführten Debatte über das magische Denken und Handeln in zeitgenössischen außereuropäischen Gesellschaften galt es als selbstverständlich, daß (sic!) eine wissenschaftliche Interpretation der Magie sich nicht auf deren eigene Vorstellungen stützen dürfe, da diese Illusionen seien. Vielmehr könne sie allein auf die sozialen und psychischen Funktionen gegründet werden, die die Magie im Leben fremder Völker einnimmt. Gegen diesen Konsensus […] sind zwei Einwände erhoben worden. Der eine besagt, daß (sic!) eine (stillschweigende) Bewertung magischer Vorstellungen als falsch zu Unrecht das europäische Wirklichkeitsverständnis universalisiert. […]. Ein zweiter Einwand wendet sich dagegen, soziales Handeln ohne Rücksicht auf die expliziten Intentionen der Handelnden zu erklären. Die Forderung, den actor-Standpunkt zum Ausgang der Erklärung zu machen, führt im speziellen Fall von Magie zu einem Zusammenstoß mit den wissenschaftlichen Rationalitätskriterien des observer.
In dieser Zusammenfassung wird die Debatte der 1970er Jahre in der Ethnologie um Funktionalismus und Eurozentrismus aufgegriffen. Bei aller geäußerter Rücksichtnahme wird jedoch auch hier deutlich, dass magische Phänomene in die Welt ‚der Anderen’ verlagert und als etwas Fremdes gesehen werden, das mit dem Leben der ‚westlichen’ Wissenschaftler nicht unbedingt vereinbar ist. Dass Spiritualismus aber stets Teil des Alltagsleben in den industrialisierten Ländern blieb, wird auch hier übersehen. Freytag und Sawicki als Geschichtswissenschaftler sind in ihrer Einleitung zu „Verzauberte Moderne. Kulturgeschichtliche Perspektiven auf das 19. und 20. Jahrhundert“ (2006) darum bemüht, dieses Missverständnis aufzuklären. Sie verweisen auf Ulrich Beck, nach dessen Theorie die Moderne kein linearer und eindeutiger Prozess ist, der nach und nach voranschreitet, und dem in allen Gesellschaftsbereichen gefolgt wird. Vielmehr gäbe es mehrere Modernen, „die neben und ineinander existieren“ (ebd.:15) ((Dazu siehe auch Comaroff J. und Comaroff, J.L. 1993: Introduction. In Comaroff J. und Comaroff, J.L. (Hrg.) „Modernity and its Malcontents: Ritual and Power in Postcolonial Africa. Chicago: University of Chicago Press.)), oder aber mit den Worten von Moore und Sanders:
[…] Spiritualism was not a manifestation of ‘tradition‘ or a hangover from the past, but a new quest for meaning in the context of rapid industrialization, large-scale war and the major advances of Victorian and early twentieth-century science. (2001:1) ((Dazu siehe auch Pels, Peter 2003: Spirits of Modernity. Alfred Wallace, Edward Tylor, and the Visual Politics of Fact. In: Meyer, Birgit / Pels, Peter (Hrsg.), Magic and Modernity. Interfaces of revelation and concealment. Stanford: Stanford University Press. 241-271.))
Somit zeigt sich, dass Moderne und Magie, also auch Wissenschaft und das Okkulte von Anfang an stark miteinander verwoben waren (Vgl. ebd.:2), was jedoch nach wie vor nicht dem offiziellen Diskurs ‚der Modernen‘ entspricht.
Seit den 1980er Jahren – um zurück zu unserem geschichtlichen Überblick zu finden – gab es eine verstärktes allgemeines und akademisches Interesse an Hexerei und dem Okkulten in Afrika. Während früher Ansätze den Hexenglauben als ‚primitive‘ und unveränderliche Tradition betrachteten, wird in den 1990er Jahren (aber vereinzelt auch in älteren Ansätzen des 20. Jahrhunderts) die Ambivalenz von Hexerei gesehen, mit Hilfe derer sie sich ständig neu erfinden und moderne Elemente in sich aufnehmen kann (Vgl. Moore/Sanders 2001:10): „Consequently, witchcraft is dynamic and engaged with the world and is, for this reason, eminently modern“ (ebd.). Da gleichzeitig festgestellt wird, dass gerade aufgrund der neuen kreativen Umgestaltung religiöser Praktiken ‚die Moderne‘ Tradition nicht zerstört oder zu Säkularisierung führt, wird erneut deutlich, dass sich Moderne und Magie nicht widersprechen, sondern beide Konzepte flexibler gedacht werden müssen, um sie zusammenzubringen. Der heutige Ansatz geht dahingehend so weit, dass okkultes Glauben und Handeln nicht nur als einhergehend mit der Moderne sondern sogar als sie konstituierend verstanden wird (Vgl. ebd:11f). Wie Freytag und Sawicki feststellen, führte zeitlicher Abstand von unserer eigenen Geschichte dazu, „uns fremd genug zu werden, um unseren Blick für kulturgeschichtlich relevante Perspektiven auf eine ganz und gar nicht entzauberte Moderne zu schärfen“ (ebd.:16).
Latours Geister/„Invisible Beings“
Kommen wir nun zu Bruno Latours Ansprache an die Ethnologen, die in AIME angehalten sind, ‚die Modernen‘ und dabei unter vielem anderen ihre „unsichtbaren Wesen“ zu erforschen, um seinen Ansatz anschließend im nächsten Kapitel in die vorgestellte Wissenschaftsgeschichte einzuordnen.
Gleich vornweg sei gesagt, dass es Latour im siebten Kapitel von AIME „Reinstituting the beings of Metamorphosis“ nicht um Geister im klassischen Sinne von Spuk- und Horrorwesen geht, wie dessen Titel bereits indiziert. Das Okkulte, also Geheime, Verborgene – oder „Unsichtbare“, wie Latour es nennt –, wird vielmehr von ‚den Modernen‘ als bedrohliche Wirkung auf das für konstant gehaltene Innenleben des Menschen verstanden, welche ganz und gar subjektiven Ursprungs sei (Vgl. 2013a:185).
Essentielles Charakteristikum ‚der Modernen‘ sei es, den „unsichtbaren Wesen“ gewaltsam den Garaus zu machen zu wollen, was nicht zuletzt mit deren nicht-materiellen Beschaffenheit zu tun habe. Dabei verstünden sie nicht, dass sie sich permanent mit ihnen beschäftigten – sei es mittels ihrer Pharmaindustrie und deren (psychedelische) Drogen, Psycho-Reality Shows, romantischer Magazine, Psychotherapie und -analyse mit dazugehörigen Berufszweigen und Technologien, Horrorfilmen, Kinderzimmern mit Transformern, Computerspielen oder psychologischen Dienstleistern für Krisensituationen etc. Der moderne Mensch wisse von sich, er habe den naiven Aberglauben an Magie und Monster hinter sich gelassen, die Angst vor Hexern und Scharlatanen abgelegt, die ihre Vorfahren noch durchlebten und glaube stattdessen an die Effizienz von Technologien (Vgl. ebd.:1853ff).
Fakt sei jedoch, dass die Wirkung der „unsichtbaren Wesen“ durchaus noch vorhanden sei, jedoch der einzige Resort psychologische Behandlungen darstellten. Grund dafür sei eben der Glaube an eine Aufteilung der Welt in das Innere und das Äußere der Menschen, während die Dinge des Inneren für nicht real, nicht einmal existent erklärt werden, da sie nicht objektiv nachvollzogen werden könnten (Vgl. ebd.:184f). Diese Unterscheidung von Objekten und Subjekten (im Sinne eines ontologischen Dualismus) möchte Latour gleich zu Beginn des Kapitels mit ontologischem Pluralismus ausweichen. Mit diesem wird die Welt eher in verschiedenen Existenzmodi als in bloßen Oppositionen gedacht, was zugleich Ziel des gesamten Buches ist (Vgl. ebd.:182f):
In fact, now that we are beginning to free ourselves from the scenography of Subject and Object, the question becomes essential: if there are several ways to exist, and not just two, we can no longer define the one simply as the opposite of the other. (ebd.:201)
Als Alternative schlägt Latour eine Sicht auf die Welt über verschiedene Existenzmodi vor. Die „unsichtbaren Wesen“ werden dem Existenzmodus „Metamorphose“ zugeordnet, er begreift sie also als Verwandlungswesen. In diesem Sinne kann Latours Interpretation des Umgangs ‚der Modernen‘ mit ihnen verstanden werden: Aus Sicht ‚der Modernen’ handele sich um Erfahrungen, die scheinbar von „außen“ kommen; man fühle sich getestet von einer auf sich gerichteten Emotion – in Form eines verletzenden Wortes, einer schockierenden Haltung, einer unpassenden Geste usw., die etwas im Innern in Bewegung setzen und das Gefühl auslösen, davon unkontrollierbar übermannt zu sein, – etwas, das mit dem Wort „Krise“ zusammengefasst werden könne (Vgl. ebd.:190). Obwohl man nun dem Eindruck unterliege, man sei im Griff einer Emotion gefangen, die mit einem selbst nichts zu tun habe – eine andere Entität käme mit ins Spiel, die ihr Ziel verfehlt hat –, lehnten ‚die Modernen‘ jeglichen Bezug zum Glauben „der Anderen“ an externe Kräfte völlig ab, wie Latour leidenschaftlich sarkastisch zum Ausdruck bringt:
This is something really intriguing: what puts [the Moderns] “beside themselves” is that someone designates the source of what is agitating them as something outside themselves! […] More surprisingly still, they will make condescending fun of the “other tribes” or the “bumpkins” who are “still” obliged to believe in sorcery, to protect themselves with fetishes or amulets, to send for a spellbreaker, or to go through a shaman to interpret their dreams. Yes, the subscriber to romance magazines, stuffed with downers, stretched out on the couch, who for good measure may well have added to a long string of home health aides a few soothsayers, gurus, imported fetish-makers, osteopaths, seers, zen masters, and various charlatans (on the pretext that “it can’t hurt”)—this modernist believes that the others believe in beings external to themselves, whereas he “knows perfectly well” that these are only internal representations projected onto a world that is in itself devoid of meaning […]. (ebd.:187)
Interessanterweise gibt es jedoch einige Parallelen zwischen dem, was sich ‚den Modernen‘ und ‚den Anderen’ bei der Metamorphose zuträgt. Latour beschreibt es als Transformation, als Überschreitung einer Grenze von einem Status in einen anderen (man denke an den „liminalen Zustand“, den 1977 bereits Victor Turner in „The ritual process. Structure and anti-structure“ beschreibt, eig. Anm.), wenn es gelinge, die Krise mithilfe einer Geste, einem Wort, einer Erinnerung, einem Ritual, etwas Unnennbarem, schwer Fassbarem zu überwinden und so mit neuer Energie geladen vom Negativen ins Positive hineingetragen zu werden („weiße Magie“). Gelinge dies nicht, und man erlange die Kontrolle über die Situation nicht zurück, fühle man sich zunehmend von sich selbst entfremdet, – was mit dem Phänomen der Besessenheit vergleichbar sei und gefährlich zerstörerisch wirke („schwarze Magie“). So sehr nun auch Angst vor diesen „unsichtbaren Wesen“ und ihren inhärenten Veränderungen aufkommt, helfen sie uns, so Latour, überhaupt weiter zu existieren (Vgl. ebd.:191ff):
The continuity of a self is not ensured by its authentic and, as it were, native core, but by its capacity to let itself be carried along, carried away, by forces capable at every moment of shattering it or, on the contrary, of installing themselves in it. (ebd.:196)
Da es für die Überwindung der Krise also darauf ankomme, wie man zu der betroffenen Person spreche (d.h. entweder „gut“, indem man die Wirkung der „unsichtbaren Wesen“ annehme bzw. ableite, oder „schlecht“, indem man „verfluche“), suchten die Betroffenen diejenigen Personen auf, die effektiv darüber sprechen könnten (z.B. in einem Beratungszimmer, ein Bethaus oder einem Kloster). Deshalb komme es an diesem Punkt nicht mehr darauf an, ob man rational oder irrational mit dem Problem umgehe, sondern darauf, ob das Hilfsmittel (sei es ein Psychotherapeut oder ein Medikament) ein wirksames sei oder nicht (Vgl. ebd.:197f).
Latour plädiert daraus resultierend abschließend dafür, dass den „unsichtbaren Wesen“ eine Konsistenz, eine Externalität, ihre eigene Wahrheit gegeben werden müsse, die nichts mit den psychotherapeutischen Arrangement‚ der Modernen‘ zu tun habe (Vgl. ebd.:198). Dass es diese Konsistenz nicht gebe,
demonstrates a sort of lack of culture, almost rudeness. It is as though there were no relation between the search for a complete, autonomous, authentic, true self and the swarming of entities necessary to the self’s constant fabrication, its continual mutations. As if there were something truly pathological in the systematic avoidance of the forces in which other peoples are said to “believe too easily”? (ebd.:193)
Ein Umgang mit „unsichtbaren Wesen“ und Heilung sei möglich, gäbe es eine eigene Kosmologie, in der die künstliche Zweiteilung der Welt in Inneres und Äußeres bzw. Sichtbares und Unsichtbares aufgehoben wäre (Vgl. ebd.:204f).
Latours Metaphysik
[…] the tumultuous quarrels over relativism and the science wars have in the meantime turned me into a mere sociologist, adherent of a “social construction” according to which “everything is equal,” objective science and magic, superstition and flying saucers.
(Latour 2013b:296)
Bruno Latour ist ein Wissenschaftler, der sich in seiner Arbeit über seine Vielseitigkeit auszeichnet. Seit den späten 1970er Jahren wirkt und publiziert er u.a. als Ethnograph, Theoretiker, Essayist, Sozialwissenschaftler, Mitbegründer der Actor-Network-Theory, Anstifter der Science Wars, politischer Ökologe und empirischer Philosoph (Vgl. Schmidgen 2011:10ff). In der Hauptsache jedoch war er an der grundsätzlichen Frage interessiert: „Wie verhalten sich Wissen, Zeit und Gesellschaft zueinander?“ (ebd.:13), und beschäftigt sich im Zuge dessen mit Wissensvermittlung und -übersetzung, womit er jedoch nicht der Erste seinesgleichen war (Vgl. ebd.:14f) ((Latour geht in seinem Artikel „Biography of an inquiry: On a book about modes of existence“ (2013) im Detail auf seine wissenschaftlichen Einflüsse, die insbesondere in der französischen Philosophie zu finden sind, ein.)). „Was Latour aber auszeichnet“, schreibt Schmidgen in „Bruno Latour. Zur Einführung“ (2011) – und dies ist relevant, um allmählich seine „unsichtbaren Wesen“ zu verstehen –,
ist die Erkundung von Übersetzungs- und Verschiebungsprozessen, die sich jenseits und diesseits rein sozialer Interaktionen, jenseits und diesseits der gesprochenen wie der geschriebenen Sprache beobachten lassen: im alltäglichen Umgang mit technischen Dingen, im Hantieren mit Karten, Photographien, Diagrammen und Tabellen und schließlich und vor allem in der Manipulation von Organen, Zellen und Mikroben […]. (ebd.:15)
Latour vertrete damit eine „symmetrische Anthropologie“, die sich nicht nur mit Menschen sondern auch mit Dingen beschäftigt (Vgl. ebd.:17). Dabei interessiere ihn die netzwerkartige Verschränkung von „Natur und Gesellschaft, Gegebene[m] und Gemachte[m], Nicht-Menschliche[m] und Menschliche[m]“ (ebd.:16).
Ein Einblick zum Hintergrund Latours jüngster Veröffentlichung AIME, dessen Entstehung Latour selbst vor 40 Jahren verortet (Vgl. Latour 2013b:290), soll helfen seinen Ansatz zu den „unsichtbaren Wesen“ nachzuvollziehen. Schon immer habe Latour es sich zum Ziel gemacht, den Stamm ‚der Modernen‘ als Objekt ethnologischer Analysen zu etablieren, um den Modus ihrer Wahrheitsproduktion, ihrer Institutionen und Erfahrungen nachzugehen, schreiben Berliner et al in ihrem Artikel „Bruno Latour and the anthropology of the moderns“ (2013). Er selbst formuliert seine Kritik folgendermaßen:
[…] [W]hy do we use the ideas of modernity, the modernizing frontier, and the contrast between modern and premodern, before we even apply to those who call themselves civilizers the same methods of investigation that we apply to the ‘others’ – those whom we claim, if not to civilize entirely, then at least to modernize a little? (Latour 2013b:289)
Dieser Vorschlag sei bisher nur zaghaft angenommen worden, was nicht zuletzt darin liegen mag, dass Latour in seiner Theorie mehr fordere, als lediglich das Forschungsobjekt zu wechseln. Der Anthropologe müsse auch seine tiefen Grundüberzeugungen darüber aufgeben, was die Sozialwissenschaften ausmache. Latour biete nicht nur eine andere Theorie sondern eine alternative ontologische Ordnung, die mit einem eigenen Vokabular erlernt werden müsse (Vgl. Berliner et al 2013:435ff). „It was through metaphysics that one could hope to become a good ethnographer“ gibt Latour (2013b:292) zu verstehen.
Latours hauptsächliches Wirken richte sich gegen einen allgemeinen Modus westlichen/modernen Denkens. Die Modernen seien diejenigen, die sich selbst gern als Teil der modernen Welt betrachten; sie selbst hätten sich in diese epistemologische Position manövriert, von der aus sie die gesamte Realität einnehmen wollten. Zu diesem Glauben gehöre, dass die Natur eine gegebene Realität „dort draußen“ sei, die unabhängig von menschlichen Neigungen und Politik bestünde (Vgl. Berliner et al 2013:439ff): „[…] the Modern take nature to be the default setting of life and being, and to know nature is to hold the key to indisputable truth and the real“ (ebd.:440). Aus diesem Grundgedanken heraus entstünden eine Reihe von Dualismen – Natur/Kultur, Menschen/Nicht-Menschen, objektiv/subjektiv, Körper/Geist, Fakt/Wert, Sichtbar/Unsichtbar usw. In dieser Weltsicht würden ‚Objekte’ befriedet und in eine außerhalb stehende, stille und uniforme Welt der „Natur“ zurückgestellt; ‚Subjekte‘ (d.h. transzendale Egos, gesetzgebende Übereinkünfte, diskursive Praktiken, die Politik der Wissens etc.) würden hingegen geschaffen.
Latour halte diesen Dualismus jedoch für eine Irreführung der Vorstellung darüber, wie Realität geschaffen werde und wolle mit seinem intellektuellen Projekt diese Täuschungen ans Licht bringen, und alternative Wege aufzeigen, Realität zu erforschen und zu verstehen (Vgl. ebd.:439ff). Wie dabei auch „unsichtbare Wesen“ ins Spiel kommen, beschreiben Berliner et al sehr anschaulich:
[…], in the coming about of reality, humans are not a privileged category; non-humans are as important. Latour has thus de-centred social analysis from the thinking subject (the social actor) and incorporated in it many nonhumans, so as to ponder their agency on humans. Repopulating the world emptied by the Moderns and thus repopulating the social sciences (Thiery and Houdart 2011), Latour and his followers have carved out a space in the social sciences for studying viruses, peptides, clouds, baboons, spirits and fungus spores as active mediations. They take in even the most humble of actants such as a key, a door, a fence, a seatbelt, a speaking grill at the post office, pigeon-holes in administrative structures, receipts and tickets, ink and so forth. This epistemic move reveals itself very helpful for anthropologists who are used to explore ways of life that involve different types of non-humans that are said to possess agency and interact with humans in the same ontological register (such as invisible entities and objects said to be endowed with agency). In a Latourian perspective, these entities are no longer to be explained away – as if they were the products of a false consciousness – but are to be followed in how, by association, they make up collectives and contribute to the making of reality. (ebd.:442)
Diese Aktanten könnten gleichermaßen instabil sein. Ihre Identitäten seien nicht klar umrissen sondern Metamorphosen unterworfen. Wie bei Gilles Deleuze sei bei Latour nichts feststehend, sondern alles im stetigen Werden. Damit vertrete Latour eine Ethnologie, welche Ungewissheit gegenüber dem „was ist“ als unvermeidlichen, aber möglicherweise gewinnbringenden Ausgangspunkt für das Studium des Lebens und Seins akzeptiere (Vgl. ebd.:441) ((Dass „Latour’s Metaphysik“ nicht der einzige Ausweg aus dem boykottierten Dualismus heraus ist, zeigen bspw. Delchambre und Marquis in „Modes of existence explained to the moderns, or Bruno Latour’s plural world“ (2013).)).
Mit diesem Ansatz, wie auch das Zitat zu Beginn dieses Kapitels zeigt, wendet sich Latour von den Vorstellungen des Postmodernismus ab und im Zuge des „material turn“ der Phänomenologie zu, welcher die Einsicht zugrunde liegt, dass sofern „alles (sozial) konstruiert“ ist, man auch gleichermaßen alles Existierende als real betrachten kann und sollte. Anstatt jedoch die nur nach ‚modernem‘ Verständnis materiellen Dinge einzubeziehen, ist Latours Weltbild metaphysischen Charakters und bezieht demnach alles von Menschen Wahr- und Feststellbare, also beispielweise scheinbar unkontrollierbare emotionale Angriffe – oder Geister und andere mögliche Erscheinungsformen ‚(über)natürlicher‘ Phänomene, – schlicht als Realität konstituierend in die Betrachtungen mit ein. Schreibt Peter Pels in dem zur Arbeit einführenden Zitat von der durch die Ethnologie mitverschuldeten Sicht auf Magie als „Anti-These der Moderne“, bietet Latours querdenkerische Forderung sicher eine Möglichkeit unter vielen anderen, diesem ‚modernen’ Missverständnis mit neuer Empirie in der Zukunft der Ethnologie eine neue Perspektive zu verleihen.
Abschließend sei noch bemerkt, dass man zu dieser Erkenntnis aber nicht nur durch philosophische Überlegungen gelangen kann, wie Susan Greenwood in „The anthropology of magic“ (2009) zeigt. Sie möchte „magic as an aspect of human consciousness“ betrachten und fordert dafür einen „different anthropological approach“ (ebd.:1). Sie selbst hat sich über Jahre hinweg als Magierin ausbilden lassen und gleichzeitig als ethnologische Forscherin gewirkt. Diese beiden Rollen ließen sich oft nicht miteinander vereinbaren, sodass sie es sich zur Aufgabe gemacht habe, zwischen beiden Feldern als Übersetzerin zu fungieren. Bereits vier Jahre vor Latours AIME schreibt sie, dass Magie in der Vergangenheit als uneindeutige Markierung ‚der Anderen‘ verwendet wurde, das nicht-westliche Subjekte in vormodernen Zeiten einfrierte. Jetzt werde sie zunehmend als Gegenpunkt zum liberalen Verständnis der Rationalisierungsprozesse der Moderne gebraucht. Auch Greenwood beschrieb bereits die emotionale Komponente von Magie, die als Parallele zwischen afrikanischen und europäischen Praktiken gesehen werden könne (Vgl. ebd.:1ff). Sie kommt zu dem Schluss:
We in the West think as magically as they do. This can be very discomforting for some, but a focus on similarities as a human proclivity is a challenge that can open up new horizons of understanding in anthropology. Magic is a universal aspect of human consciousness; it is inherent in the mind. Magic has been associated with backwardness and primitivism, a negative trope in constructions of the primitive other, and has been banned from progressive ethnographies; but now the concept is being recast in new and exciting ways. Having been concealed in the West under a cloak of rationality, it is therefore particularly relevant to study magic in Western societies. Magic is alive and well an an analytical category in a whole range of new ethnographies. (ebd.:4)
Geister für alle
Ziel der vorliegenden Arbeit war es, Bruno Latours Verständnis gegenüber Geistern/„unsichtbaren Wesen“ in seinem Buch AIME (2013) vor dem wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund der Ethnologie zu positionieren. Wie sich zeigte, wechselte mit den Strömungen in der Ethnologie auch die Umgangsweise mit magischen Vorstellungen in außerwestlichen Gesellschaften. Der Umgang mit Magie in den ‚modernen‘ Gesellschaften jedoch blieb unverändert paradox: nach außen hin wird sie als rückständig und naiv abgelehnt, gleichzeitig aber fürs das Private auf dem Markt zur Unterhaltung, bzw. im medizinischen Bereich zur Behandlung in vielfacher Ausformung angeboten und verkauft.
Latour, neben anderen Autoren wie Peter Pels und Susan Greenwood, vertritt eine Position, die von der Ethnologie abverlangt, was sie bisher eher vermieden hat: sich mit den eigenen Vorstellungen in ihren für ‚modern‘ geglaubten Wissenschaftszentren auseinanderzusetzen und sich einem universalistischen Menschenbild anzunähern, bei dem nicht fortan Unterschiede zwischen Menschen perpetuiert sondern eher Gemeinsamkeiten zugelassen werden. Während Latour, wie auch andere Autoren, Magie in ‚der Moderne‘ nachweisen konnte, grenzt er sich von ihnen mit seiner Forderung nach der Schaffung eigener Kosmologien ab und verlässt mit dieser Einmischung gewissermaßen wissenschaftliches Terrain. Mit seiner hohen Rezeption im akademischen Bereich bleibt abzuwarten, ob Latour tatsächliche „Metamorphosen“ im ethnologischen Diskurs zum Okkulten und anderen als ‚nicht modern‘ geltenden Aspekten herbeiführen wird.
Bibliographie
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