Die Herrschaft der Regel: Bürokratisierung der Universität

Die Herrschaft der Regel: Bürokratisierung der Universität

In dieser Hausarbeit werden die Prinzipien der Bürokratischen Herrschaft und ihre Auswirkungen auf die Universität beschrieben. Dabei stütze ich mich im ersten Teil vor allem auf einen Vergleich der Bürokratie-Theorien von Max Weber und David Graeber. Die konkreten Auswirkungen stelle ich anhand einer Streitschrift von Kühl, einem Interview einem wissenschaftlichen Mitarbeiter der MLU sowie eigenen Beobachtungen dar.

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1. Bürokratie als Alltag

Ein Kontrolleur steigt in die S-Bahn und prüft die Fahrscheine der Insassen. Er fragt die Frau neben mir, bis wohin sie fahre. Sie antwortet, dass sie nach Schkeuditz fahre, woraufhin er erwidert, dass das „City-mobil-Ticket“ nur bis Lützschena gelte. Sie entschuldigt sich, sagt dass sie das nicht gewusst hätte und möchte ein Anschlussticket kaufen. Der Kontrolleur stellt fest, dass Fahrkarten vor Antritt der Fahrt gekauft werden müssen und sie jetzt leider aussteigen müsse. Es entspinnt sich eine hitzige Diskussion, in der er zugibt, dass es möglich ist im Zug eine Fahrkarte zu kaufen, aber nur wenn die Person von sich aus auf den Kontrolleur zugehe und es jetzt nicht mehr möglich sei und sie eine Anzeige riskiere, wenn sie sitzen bliebe. Sie bittet ihm um „menschliches“ Verhalten, er weist darauf hin, dass auch er seinen Job verliere, wenn er ihr regelwidrig eine Fahrkarte verkaufen würde. Sie steigt aus.

Eine solche Situation ist für Menschen in unserer Gesellschaft ein gewisser Weise normal, auch wenn manche sie vielleicht unbefriedigend finden. Schon Max Weber wusste: „Statt des durch persönliche Anteilnahme bewegten, Gunst, Gnade, Dankbarkeit, bewegten, Herrn der älteren Ordnungen verlangt eben die moderne Kultur, […] den menschlich unbeteiligten und, daher streng sachlichen Fachmann“ (Weber 1980:563) Der Kontrolleur hat in seinem Sinne vollkommen korrekt gehandelt: Er hat ganz klare Regeln, wann er Tickets verkaufen darf und hat auch vollkommen recht, dass seine Vorgesetzten das Nichtbefolgen dieser Regeln bestrafen können. Auffallend ist, dass in diesen Situationen keine Rolle spielt, welche Handlung der Kontrolleur persönlich sinnvoll fände und wie die Situation zur Zufriedenheit aller gelöst werden könnte. Wenn man annimmt, dass die Bahngesellschaft Umsatz machen möchte und möglichst viele Kunden an sich binden möchte, scheint es vernünftig, der Frau das Ticket zu verkaufen. Die einzige Rechtfertigung des Rauswurfs ist eigentlich die Einhaltung des Regelwerks der Deutschen Bahn („Beförderungsbedingungen“). Das Organisationsmodell, das die Einhaltung von Regeln zum obersten Prinzip gemacht hat, ist die Bürokratie. Obwohl sie als Phänomen allgemein anerkannt ist, gibt es – wie bei so vielen umkämpften Begriffen – keine einheitliche Definition. Im Alltagsgebrauch vor allem im Bezug auf das ausfüllen von Formularen begrenzt, ist die Bürokratie eigentlich ein viel tiefer gehendes Phänomen und wird oft nicht also solches erkannt. Letztes Jahr unternahm David Graeber den Versuch, die Bürokratie als Thema wieder prominenter in der Anthropologie zu besprechen und kommt in „Bürokratie. Die Utopie der Regeln“ (2015) zu ähnlichen Erkenntnissen, wie schon Max Weber vor über einhundert Jahren. In dieser Arbeit werden zunächst die Merkmale der Bürokratie erläutert und anschließend gezeigt, wie auch die Universität in den letzten Jahrzehnten zunehmend nach diesen Prinzipien umstrukturiert wird. Ich beziehe mich dabei vor allem auf Fachliteratur, aber auch auf ein Interview mit einen Wissenschaftliche Mitarbeiter der MLU Halle und eigene Beobachtungen (zu besseren Erkennbarkeit kursiv gesetzt und eingerückt).

2. Die Entstehung und Prinzipien der Bürokratie

Obwohl es keine einheitliche und kurze Definition von Bürokratie gibt, lassen sich doch aus den Werken Webers und Graebers, viele wesentliche Merkmale herausarbeiten. Wie Graeber (2015) schon im Titel seines Buches erkennt, ist die Bürokratie zu aller erst eine „Utopie der Regeln“ in dem Sinne, dass sie auf einem Regelwerk beruht, das universell anwendbar sein soll und für alle überhaupt möglichen Situationen eine Regel zu deren Bearbeitung bereit hält. Weber konnte um die Jahrhundertwende zum 20. Jhd. persönlich miterleben, wie sich politische und wirtschaftliche Organisationen wandelten. Zunächst beruhte die Legitimität ihres Handelns und ihrer Herrschaft vor allem auf Tradition oder dem Charisma bestimmter Personen. Doch sie beriefen sich zunehmend auf einen „Kosmos abstrakter, […] absichtsvoll gesetzter Regeln“ (Weber 1980: 125), denen allgemeine Gültigkeit und Rationalität zugesprochen wurde. Diese Art der „rationalen“ oder „legalen“ Herrschaft hat es laut Weber im Verlaufe der Geschichte zwar schon sehr lange gegeben, doch bestimmte Entwicklungen machten ihren Ausbau erforderlich und verhalfen ihr zu größerem Erfolg: „Meist haben […] in der Richtung der Bürokratisierung Bedürfnisse gewirkt, welche durch die machtpolitisch bedingte Schaffung stehender Heere und die damit verbundene Entwicklung des Finanzwesens entstanden. (Weber 1980: 560) Notwendig wurde sie also vor allem in großen Imperien und Staaten, die andere Gebiete militärisch erobern wollten und als Mittel dazu auch ein Geldsystem einführten, um die Besoldung der Soldaten sicher zu stellen. In neuerer Zeit wurde sie auch für die Verwaltung der immer komplexeren, globalen Marktwirtschaft notwendig; „Die Forderung einer nach Möglichkeit beschleunigten, dabei präzisen, eindeutigen kontinuierlichen Erledigung von Amtsgeschäften wird heute an die Verwaltung in erster Linie von Seiten des modernen kapitalistischen Wirtschaftsverkehrs gestellt.“ (Weber 1980: 562) Möglich wurde die Bürokratisierung auch durch die Entwicklung neuer Technologien: „Der moderne Staat des Okzidents kann so, wie es tatsächlich geschieht, nur verwaltet werden, weil er Beherrscher des Telegraphennetzes ist und Post und Eisenbahnen ihm zur Verfügung stehen.“ (Weber 1980: 561) Seit Weber haben sich die zur Verfügung stehenden Techniken für Datenverwaltung, Kommunikation und Überwachung natürlich stark weiterentwickelt. Das Internet, die wachsende Kapazität von elektronischen Speichermedien und die Geschwindigkeit der Datenübermittlung haben zu ganz neuen Möglichkeiten geführt.

In jeder bürokratischen Organisation gibt eine feste Amtshierarchie, die festlegt, welche Verantwortung ein Teil der Organisation gegenüber den anderen Teilen hat. (Weber 1980: 125ff) Außerdem war für ihn klar: „Jede Herrschaft äußert sich und funktioniert als Verwaltung“ und „Jede Verwaltung bedarf irgendwie der Herrschaft, denn immer müssen zu ihrer Führung irgendwelche Befehlsgewalten in irgend jemandes Hand gelegt sein.“ (Weber 1980: 545) Graeber führt diesen Gedanken fort und meint: „unpersönliche Regeln und Vorschriften funktionieren […] nur, wenn sie durch Gewaltandrohung gestützt werden. Er weist daraufhin, dass die moderne Polizei ein relativ neues Phänomen des 19. Jahrhunderts ist, und sich gerade in der letzten Zeit die Anzahl der „Überwachungskameras […], Polizeifahrzeuge, […] Männer und Frauen in unterschiedlichen Uniformen, die entweder im öffentlichen oder privaten Auftrag tätig sind und in Taktiken der Bedrohung, Einschüchterung und nicht zuletzt auch der physischen Gewaltanwendung“ ausbildet sind, stark erhöht hat. (Graeber 2015: 42)Bürokratie ist also zugleich die Ausübung von Herrschaft mithilfe abstrakter Regeln und benötigt gleichzeitig Herrschaft und Gewalt(-androhung), um ihr Regelwerk durchzusetzen. Die verschiedenen Teile einer bürokratischen Organisation haben festgelegte Kompetenzen und Leistungspflichten, sind mit den dafür notwendigen Befehlsgewalten ausgestattet und dürfen festgesetzte Zwangsmittel einsetzen.

Auch die Rolle des Individuums innerhalb der Organisation ändert sich. Menschen werden nicht aufgrund ihrer Herkunft, Abstammung oder Leistung, sondern „einer generell geregelten Qualifikation“(Weber 1980: 551) – heute würde man Bildungsabschluss sagen – eingestellt. Die Angestellten können zwar die ihnen zustehenden Ressourcen nutzen, sie befinden sich jedoch nicht in ihrem Besitz und können ihnen auch jederzeit von einem in der Hierarchie höher stehenden Gruppe entzogen werde. Da alle ihre Entscheidungen auf festen Regeln beruhen sollen und nachvollziehbar sein müssen und ein Vorgang oft mehrere Schritte und Personen umfasst, muss alles in Akten festgehalten werden. Diese müssen archiviert und nach Anfrage weitergegeben werden. Niemand steht außerhalb der Regeln, Merkmal der Bürokratie ist, dass auch „der „Vorgesetzte“, indem er anordnet und mithin befielt, seinerseits der unpersönlichen Ordnung gehorcht, an welcher er seine Anordnungen orientiert“ (Weber 1980: 125).

Diese Charakteristika treffen auf eine staatliche Behörde genauso zu, wie auf „die ganz großen modernen kapitalistischen Unternehmungen [die] selbst normalerweise unerreichte Muster straffer bürokratischer Organisation.“ sind. (Weber 1980: 562) An Unternehmen zeigt sich besonders deutlich der Anspruch der Bürokratie, alle Vorgänge „berechenbar“ zu machen. Denn eine bürokratische Organisation erreicht ihre Ziele umso eher, je genauer sie die Verwendung von Mitteln und Strategien planen kann. Dies gelingt ihr umso besser, je vollkommener „die Ausschaltung von Liebe, Haß, und allen rein persönlichen, überhaupt allen irrationalen, dem Kalkül sich entziehenden, Empfindungselementen aus der Erledigung der Amtsgeschäfte, gelingt“(Weber 1980: 563). Diese Strategie hat sich als so erfolgreich erwiesen, dass inzwischen fast das gesamte gesellschaftliche Leben der Menschheit durch bürokratische Organisationen wie die WTO (Welthandelsorganisation), den IWF (Internationaler Währungsfond) und die UN (Vereinten Nationen) sowie durch länderübergreifende Wirtschaftszusammenschlüsse (zB. EU) geregelt wird (siehe Graber 2015: 39). Er spricht daher von der „totalen Bürokratisierung“ (ebd.: 24), analog zu Weber, der vom „Tatbestand der universellen Bürokratisierung“ (Weber 1958: 318) sprach.

3. Die Bürokratisierung der Universität

3.1 Neue Entwicklungen

Inwieweit treffen nun diese Charakteristika der Bürokratie auf die Universitäten in Deutschland zu? Die Antwort ist: In zunehmendem Maße. Das Leben und Arbeiten an Universitäten beruht seit ihrer Entstehung auf gewissen formalen Regeln und bürokratischen Prinzipien. Doch das Ausmaß, in dem abstrakte Regeln den Alltag aller Angehörigen der Uni beeinflussen, seit der Bologna-Erklärung am 25.Mai 1999 noch einmal stark erhöht. Als Teil einer Reihe von Maßnahmen, die die Qualität der Hochschulbildung und die Mobilität der Studierenden steigern sollten, wurde unter anderem ein „system of credits – such as in the ECTS system -“ gefordert. Und obwohl „die Erklärung von Bologna […] keinerlei rechtliche Verbindlichkeit für die Unterzeichnerstaaten hat“ (Kühl 2012:122) wurde diese Forderung auch recht schnell sehr umfassend umgesetzt. Das ECTS-System ist eine Art Kunstwährung, dass die zum erreichen eines Lernziels notwendige Zeitmenge erfasst und damit vergleichbar macht. „Durch die ECTS-Punkte soll es also -so jedenfalls die Vorstellung der Bildungsplanung – möglich sein, jede Stunde, die ein Studierender mit seinem Studium verbringt, im Voraus zu kalkulieren“ (Kühl 2012:29). Dies ist im Sinne Grabers natürlich eine „utopische“ Vorstellung, da jede*r Studentin unterschiedlich viel Zeit für die gleiche Aufgabe benötigt. Im Sinne einer bürokratischen Organisation ist es jedoch ein effektives Mittel, um Berechenbarkeit herzustellen. Damit einhergehend wurde das Studium in Bachelor und Master aufgeteilt und diese wiederum in verschiedenartige Module, für diese bestimmte Lernziele formuliert werden müssen. Diese Module sind wiederum auf bestimmte Weisen kombinierbar und müssen jeweils durch bestimmte Arten von Prüfungen mit Vorschriften und Fristen abgeschlossen werden. Es entstand also ein ausführlicher neuer Kanon an Vorschriften, Beschreibungen und Bestimmungen, dessen Einhaltung überprüft werden muss. Dafür sind zunächst die Lehrenden zuständig, bei denen jedoch auffällt, dass sie das neue Regelwerk oft selbst nicht voll überblicken.

In Ethnologischen Institut der MLU Halle ist meiner Erfahrung nach vielen Dozenten der (wichtige) Unterschied zwischen einer „Studienleistung“ und einer „Modulleistung“ nicht geläufig und muss ihnen bisweilen von den Studierenden erläutert werden.

Graeber berichtet, dass „der Anteil der Arbeitszeit [der Lehrenden], der für administrative Tätigkeiten aufgewendet werden muss, explosionsartig zugenommen“ (2015: 164ff) habe. Durch die Einführung des Bachelor-Master-System hat sich sowohl die Zahl der Prüfungen als auch der Buchhaltungsinstrumente stark erhöht. War vorher nur die Abschlussprüfung für die Endnote relevant, so müssen nun dutzende von Prüfungsleistungen erbracht, notiert, angemeldet eingetragen und überprüft werden. Dazu wurden neue Online-Portale wie Stud.IP und das Löwenportal eingerichtet, bei denen jeweils verschiedenartige Informationen über die Studierenden abgebildet sind und eingetragen werden müssen (Interview 9:10 min). Die Dozenten des Instituts für Ethnologie haben jedoch selbst keinen Zugang zu den Informationen in Löwenportal und können somit nicht sehen, wer bei ihnen eine Prüfung machen will. Sie müssen daher noch eigene Listen führen. Ein Wissenschaftlicher Mitarbeiter berichtete mir im Interview, dass er auf drei Ebenen (Teilnehmerliste auf Papier, Excel-Tabelle auf seinem PC, Online bei Stud.IP und Löwenportal) Informationen über Prüfungsleistungen führt (Interview 25:48 min) Diese müssen in mehreren Schritten mit dem Sekretariat des Ethnologischen Instituts gekoppelt werden. In der nächsten Instanz wachen die Zentralen Prüfungsämter der Universität über die Einhaltung der Regeln und Fristen. Sie werden jedoch wiederum von den Koordinierungsgremien der Akkreditierungs-Agenturen überwacht, die im Zuge der Reform neu geschaffen wurden. Diese „halb-öffentlichen“ Organisationen „prägen […] die Form und Inhalte der Studiengänge maßgeblich mit“ (Kühl 2012:121).

Darüber hinaus wurde das Qualitätsmanagement an Universitäten stark ausgeweitet, um Forschung und Lehre weiter zu verbessern. Es trat jedoch das Problem auf, das „der eigentliche universitäre Kernprozess der Wissensvermittlung“ sich „nur schwer durch die in Unternehmen erprobten Instrumente der Qualitätssicherung“ erfassen lässt (Kühl 2012: 43). Aufgrund dessen wird das Qualitätsmanagement zu einer weiteren Behörde, die „nur auf die Einhaltung formaler Standards“ (Kühl 2012: 43) überprüft.

Eine weiteres Element der Bologna-Reform ist die Idee der Studierendenzentrierung. „Studierendenzentrierung bedeutet jetzt, einen Studiengang konsequent aus der Perspektive der Studierenden zu planen: Was sollen die Studierenden am Ende ihres Studiums beherrschen? Welche Lernziele bestehen für die verschiedenen Studienabschnitte?“ (Kühl 2012: 70) Es fällt auf, das hier nicht tatsächlich nach den Wünschen und Bedürfnissen der Studierenden gefragt wird, sondern wiederum abstrakte Regeln und Vorgaben gemacht werden, in diesem Fall für das notwendige Wissen um einen Studiengang erfolgreich abschließen zu dürfen. Doch nicht nur die Studierenden, auch Forschenden müssen sich mit einem wachsenden Regelwerk auseinandersetzen.

Es wird deutlich, dass nicht nur mehr und neue Regeln für die Mitglieder der Universität, sondern auch ganz neue bürokratische (Überwachungs-) Behörden geschaffen wurden wurden. Dies hat weitreichende Konsequenzen für den Alltag und die Arbeit an der Universität.

3.2 Folgen und Nebenwirkungen

Für die Studierenden zeigen sich die Konsequenzen der Bürokratisierung zunächst im wachsenden zeitlichen und kognitiven Aufwand für die formelle Organisation ihres Studiums. Die Einführung des ECTS-Systems und der Modularisierung lässt nur ganz bestimmte Kombinationsmöglichkeiten zu und verlangt dabei die Beachtung einer stark gestiegenen Anzahl von Parametern

Welchen Teil des Moduls brauche ich noch? Gibt das Seminar die korrekte Anzahl Credit Points? Welche Prüfungsleistungen sind notwendig und darf ich laut Studienordnung noch eine weitere Klausur schreiben? Habe ich die korrekten Fristen für die Anmeldungen zu Modulen und Prüfungen eingehalten? Wurde mit mir meine Studienleistung anerkannt und eingetragen? Passt meine Wahl zum Profil des Master-Studiengangs, auf den ich mich möglicherweise bewerben will?

Dadurch verringert es effektiv die Anzahl der Wahlmöglichkeiten (Kühl 2012: 16) im Gegensatz zu einem früheren Studiengang, wo nur die Anzahl der zu belegenden Seminare und Semesterwochenstunden zu berücksichtigen war. Kühn stellt fest, dass es „zu einer erheblichen Erhöhung der Prüfungs- und damit auch Korrekturlast gekommen ist“ (Kühl 2012: 73), da alle Module nun mit einer Prüfung abgeschlossen werden müssen. Dies lässt den Studierenden weniger Zeit für ein Interessen-geleitetes Studium und führt dazu, dass etliche ausschließlich die vorgegebenen Texte lesen, um die Prüfungen zu bestehen. Auch für die Lehrenden steigt die Arbeitsbelastung mit Verwaltungstätigkeiten. Sie müssen eine stark gestiegene Anzahl von Prüfungen verwalten und Informationen mit verschiedenen Büros austauschen. Außerdem müssen sie viel mehr Korrekturen durchführen und mehr Zeit mit dem akquirieren von Drittmitteln verbringen. Dadurch verringert sich die Zeit, die sie für die eigene Forschungstätigkeit nutzen können.

Außerdem hat sich als Folge des Aufkommens der Akkreditierungs-Agenturen der Kompetenzrahmen der Fakultäten und Institute verringert, da sie nun in der Amtshierarchie im Bezug auf die Studienordnung weiter unten stehen und alle Veränderungen von den Agenturen genehmigt werden müssen. Das Nichtbefolgen kann zu langwierigen und arbeitsintensiven Revisionsprozessen führen, die vermieden werden sollen, um die Arbeitsbelastung der Mitarbeiter der Universität nicht noch weiter zu strapazieren. Die Institute haben dadurch weniger Freiheit in der Gestaltung der Studiengänge. Muellerleile und Robertson meinen sogar, dass die bürokratischen Abläufe einem Maße zum Selbstzweck werden, dass der eigentliche Sinn von Handlungen verloren geht: „In the economy of digital measurement the university does not just receive a ranking, it becomes a recursive socio-technical machine for producing ranking data“ (2015:11). Sowohl für Studierende, als auch für Forscher*innen und Lehrende, bringt also die Bürokratisierung vor allem eine Einschränkung von Freiheit und Kreativität mit sich. Graeber meint: „Jene Denker, denen zuzutrauen ist, dass sie mit neuen, konzeptionellen Durchbrüchen aufwarten, sind gleichzeitig jene, die mit der geringsten Wahrscheinlichkeit Unterstützung erhalten.“(2014: 169) Durch die permanente Bewertung und Kontrolle und den Papierkram wird es sehr viel schwieriger dem eigenen theoretischen Interesse zu folgen, dessen Ergebnisse noch nicht abzusehen sind, dass sich möglicherweise nicht „auszahlt“. Dies führt nach Graeber dazu, dass in den letzten 30 Jahren „kein bedeutendes neues Werk über Sozialtheorie“ verfasst wurde und die Universität kein Ort mehr für exzentrische, brillante und versponnene Naturen mehr ist, sondern nur für professionelle Selbstvermarkter. (Graeber 2015: 165ff)

4. Ausblick

Das die Umsetzung der Bologna-Erklärung zu vielfältigen Problemen geführt hat, auch jenseits den von mir beschriebenen, kann vermutlich niemand bestreiten. Interessant wird es jedoch, wenn man sich anschaut, welche Arten von Lösungen vorgeschlagen werden. Denn wie schon Karl Mannheim erkannte: „The fundamental tendency of all bureaucratic thought is to turn all problems of politics into problems of administration“ (Mannheim 1952: 360). Wenn also das Problem auftaucht, dass Studierende sich uninteressiert an ihren (Pflicht-) Veranstaltungen zeigen wird in aller Regel eine Lösung umgesetzt, die innerhalb des bürokratischen Denkens entstanden ist.

So wurden im Ethnologischen Institut der MLU Anwesenheitslisten eingeführt, in die sich die Studentin eintragen muss, die zu einem weiteren Verwaltungsaufwand führen und die Eigeninitiative der Studierenden weiter begrenzen.

Es kommt in vielen Universitäten zu immer weiteren Reformen, die die Probleme des ECTS und Bachelor-Master-Programms beheben sollen, sie durch noch mehr Regeln jedoch nur noch weiter verschärfen. Es wäre interessant im nächsten Schritt zu untersuchen, in wie weit sich die Akteure in der Universität bewusst sind, dass die Probleme eigentlich nach den oben erläuterten Theorien grundsätzlicher angegangen werden müssten und ob es Orte gibt, an denen dies bereits versucht wurde. Außerdem wurde in dieser Arbeit nicht explizit die Frage gestellt, welche Akteure durch die Bologna-Reform ihre Herrschaft ausbauen konnten und ob die Folgen in diesem Sinne möglicherweise intendiert waren. Dazu wäre sicherlich eine genaue Untersuchung der neu geschaffenen Akkreditierungs-Agenturen interessant, die in dieser Arbeit zu kurz kam.

Literatur

Graber, David 2015: Bürokratie. Die Utopie der Regeln. Stuttgart: Klett-Cotta.

Kühl, Stefan 2012: Der Sudoku-Effekt. Hochschulen im Teufelskreis der Bürokratie. Eine Streitschrift. Bielefeld: transcript Verlag

Mannheim, Karl: Orientations of Bureaucratic Thought. In: Robert K. Merton, Ailsa P. Gray, Babara Hockey, Hanan C. Selvin (Hg.) 1952: Reader in Bureaucracy. Canada: Macmillan Publishing, 360-361.

Muellerleile, Chris, Robertson, Susan 2015: Digital Weberianism: Towards a reconceptualization of bureaucratic social order in the digital age. University of Bristol: Working Paper

Weber, Max 1980: Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriß d. Verstehenden Soziologie. Tübingen: Mohr.

Weitere Quellen

Interview mit Wissenschaftlichem Mitarbeiter MLU am 25.05.2016 (Auszug)

W [9:10]: Ich glaube ziemlich parallel zur Einführung des ähm Bachelor-Master-Programms kam dieses Löwenportal auf. Ich bin mir da nicht ganz sicher ob… es… also auf jeden Fall war Bachelor und Master zuerst da, also zuerst war Bachelor da und ich glaube schnell dahinter her kam dann das Löwenportal. Also juristisch bindend ist, was im Löwenportal steht.

W [9:30]: Also die [Teilnehmer-]Liste hat mit dem juristischen gar nichts, das ist sozusagen ein zusätzliches Dokument um… Also gehen wir mal von dem Fall aus: Wir haben ja diese Modulbescheinigung, wo in der Regel zwei Kurse aufgeführt sind, sie machen jetzt einen, machen dann die Studienleistung richtig, dann geben sie die ausgefüllte Modulbescheinigung zum Dozenten, der unterzeichnet ja Studienleistung und Teilnahme ist erbracht, Student kann sozusagen die eine Hälfte dieses Moduls verbucht bekommen. Dann geht dieser Schein in das Sekretariat, das Sekretariat verbucht das im Löwenportal, dann geht der Schein zurück an sie, in den Zettelkasten, dann machen sie im nächsten Semester einen zweiten Kurs für in dem selben Modul. Dann geht das genauso, sie machen den Kurs, geben den Zettel zurück, der Dozent bestätigt, dass die Teilnahme und Studienleistung in Ordnung waren, geht’s in Sekretariat, das Sekretariat verbucht das im Löwenportal, dann geht der Zettel zurück an sie, weil sie haben ja noch keine Modulleistung gemacht, sie schreiben eine Hausarbeit, geben dann die Modulbescheinigung wieder ab und der Dozent bewertet ihre Arbeit und notiert die Note der Hausarbeit, die dann gleichzeitig Note des Moduls wird auf dieser Modulbescheinigung, diese Modulbescheinigung geht dann wieder ans Sekretariat, das wird dann wieder im Löwenportal verbucht und dann ist das Modul entweder bestanden oder nicht. Bekommen sie den Schein dann nochmal zurück? Ich glaube, dann wird archiviert.

W [18:15]: Das ist so ein erweitertes Stud-IP was Dozenten sehen, wir haben ja ein ganzes… Teilnehmermanagement-Sektion da drin, und da sieht man diese Informationen auch alle. Also in gewisser Weise ist da auch ne Redundanz da. Aber… wie sie sehen… wir haben halt an der MLU so viele verschiedene Portale, Portälchen, wo relevante Sachen in der Administration von studentischen Zusammenhängen, also nicht nur Leistungen… sondern auch Zulassungen und so passieren, das ist eigentlich… puh es wäre schön wenn das mal gebündelt in einer Plattform endet aber das ist anscheinend nicht gewollt oder nicht durchsetzbar oder aus strategischen Gründen was auch immer. Das ist natürlich schon ein bisschen anstrengend.

W [20:54]: Insofern, diese Teilnehmerliste ist redundant, in mehrerer Hinsicht. Und sie ist vielleicht auch ein bisschen old-fashioned ähm… aber sie hat, sie bietet eben die Möglichkeit einfach nen ganz kurzen schnellen Blick zu sehen wer ist da, was haben die gemacht, wann haben die das gemacht, ist das komplett. Auch ne Orientierung darüber, von wem müsste ich jetzt eigentlich noch Hausarbeiten kriegen. Also das ist auch so ne Sache.

W [24:30]: Da hängts jetzt auch vom Dozenten ab, ob die Teilnehmerliste das Dokument ist, wo die letztendliche finale Version drauf ist. Also zum Beispiel mit den Hausarbeiten, es kann sein, dass in der letzten Sitzung

W[25:48]: Oder man macht sich ne eigene Excel-Tabelle, also ich mache die zum Beispiel aus den Teilnehmerlisten in Stud.IP, die kann man exportieren als so ne cvs-Datei, also so ne Open-Source-Tabellen-Kalkulations-Datei, und dann mache ich mir eine eigene Excel-Tabelle, wo ich im Prinzip wo halt ähnliche Informationen rein mache, weil dann bin ich Papierkram los und ich bin ortsunabhängig mit meinen Informationen.

W[26:16]: Nichtsdestotrotz, dass ist meine Herangehensweise, also ich mache dann quasi noch eine dritte Ebene auf.